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Körper

 
Stehen, kauern, liegen
Zu den neuen Bildern von Erich Tschinkel
 
Experimentierfreude und Kontinuität sind in der Gegenwart vielleicht bestimmendere Faktoren als je zuvor. Vor allem auf künstlerischem Gebiet gelten beide werkbestimmenden Normen als wichtiger Anhaltspunkt für den Stellenwert eines Menschen, der einzelne Problemkreise seiner Zeit geistig aufzuarbeiten sich vornimmt. Die Bestimmung der genannten Begriffe erfolgt meist schematisch und unscharf. Einem „Experimentierer“ sind in der Wahl der künstlerischen, ja sogar im Heranziehen außerkünstlerischer Mittel nahezu keine Grenzen gesetzt. Da er sich nicht festgelegt hat – sieht man vom Status des Experimentierens ab, gilt er als offen, beweglich, aufgeschlossen. Er entzieht sich scheinbar jeder Etikettierung, schlittert aber in der öffentlichen Meinung leicht in die Unseriosität, da der stetige Verunsicherungseffekt dem durchschnittlichen Tempo des geordneten Nachvollzuges voraus ist. Hinterlässt der Künstler hingegen deutlich sichtbare Spuren von Kontinuität, was in unserem Sprachgebrauch ein eher langsames Einführen von Ideen und deren eindringlicher formaler Vollzug über einen längeren Zeitraum hinweg bedeutet, steigen auf Grund der leichter möglichen Fixierung, die meist nur eine einmalige intensive Rezeption erfordert, Glaubwürdigkeit und Anspruch: wesentliche Anliegen brauchen eben Zeit und bedürfen einer gründlichen langfristigen Durcharbeitung. Der nächste Schritt, festgelegt zu sein, ist allerdings dann kein großer mehr. Verfeinerungen, stilistische Weiterentwicklungen besitzen innerhalb dieses strengen Regelsystems nicht mehr Wert als den kosmetischer Operationen: sie greifen nicht an die Substanz. Eine solche dichte Substanz baute sich Erich Tschinkel Jahre hindurch in seinen Ölbildern auf. Einfache technische Formen, Apparaturen, Fliesen, Gestänge, Gelenke, saubere, objektive, vom Menschen erdachte, von der Machine gefertigte Gegenstände beschrieb er in eindrucksvoller Art. Die Technik repräsentiert durch ihr scharf geschnittenes Detail, festgehalten aus überraschendem Blickwinkel, verdichtet durch die Freilegung aus einem komplexen Zusammenhang, machte gewaltigen Eindruck. Tschinkel registrierte unablässig die massive technische Formenwelt, wobei er gar nicht weit aus seiner unmittelbaren Umgebung ausscheren musst, staunte, erlebte die Bedeutung als Teil unserer äußeren Realität und drang, was manchmal übersehen wurde, auch durch die Oberfläche. In einer reizvollen Einheit zwischen Inhalt und Form gerieten ihm die großformatigen Ausschnitte zu klaren malerischen Zeichen, die in ihrer Nüchternheit wesentliche Stimmungsqualitäten besaßen.
 
Natürlich wird es vor den heutigen Arbeiten Tschinkels – Figuren, die stehen, kauern und liegen – leichter, wenn nicht sogar bequem, festzustellen, dass jene reduzierten, hochstandardisierten Symbole durch die Art ihrer Isolation und durch ihre fast feierliche Stille den Menschen als „Gegenbild“ in sich enthielten. Nicht um meine Beobachtungen von einer inzwischen stattgefundenen Entwicklung bestätigen zu lassen, halte ich diese Tatsache fest, sondern weil ich glaube, dass sie für das Phänomen Kontinuität am Beispiel Tschinkel wichtig erscheint. Außerdem dürfen wir uns davon Aufschlüsse über den geistigen Hintergrund und eine ganz bestimmte Art der „Weltsicht“ erwarten.
 
Vordergründig wird das technische Detail durch die nackte menschliche Figur einfach ersetzt. Einer, der die Entwicklung Tschinkels zum vielfach und vielerorts geschätzten realistischen Maler nicht mitverfolgte, wird mit Recht die Frage stellen, bedarf es der Kenntnis dieser ausgereiften und nun abgeschlossenen Phase, um die neue Bildgruppe zu verstehen? Ich glaube – nein. Sie ist inzwischen soweit in sich geschlossen, dass die entscheidenden geistigen und künstlerischen Kriterien aus den Werken selbst ablesbar sind. Lediglich für die behutsame, fortschreitende Realisation von Ideen besitzt die Gegenüberstellung Bedeutung. Aus dem guten Grund, vor einer entscheidenden Umbruchsphase in einem künstlerischen Werk zu stehen, wurden die Vergleiche angezogen. Und, um eindeutig festzustellen, dass es sich nicht um ein zeitlich und thematisch begrenztes Experiment handelt, dem Tschinkel grundsätzlich gar nicht so ablehnend gegenüber steht, was er am Beispiel fototechnischer Aktionen bewies, das er aber bisher immer scharf vom Bereich der Malerei trennte.
 
Die Zeiten, wo über das Menschenbild in der Kunst zu schreiben fast ausschließlich identisch war mit Analysen über den verzerrten, zerstörten, geschundenen Körper, haben sich seit dem Pop und Fotorealismus entscheidend geändert. Trotzdem überrascht es, auch wegen der Bacon, Wunderlich und Antes, den nackten männlichen Körper so unversehrt und selbstbewusst, so schlicht und doch beherrschend, so einfach und selbstverständlich als Bildmotiv vorzufinden. Weder die Schärfe des Foto-Objektivs, noch die Verkrümmung oder Exhibition sind ihm eigen. Er steht, kauert oder liegt, die Hände erhoben, ausgestreckt, an den Körper gelegt oder ausrastend am Kopf und an den Oberschenkeln abgestützt. Vor der Wand, an die Wand gelehnt, im Winkel oder am Boden erscheinen die Akte im Bild. Grauschattierungen modellieren den Körper, der malerisch aus Flecken und ausfransenden Linien entsteht, dessen Plastizität aber auch in den dunklen Schattenpartien immer spürbar bleibt. Wird der Mensch, so als ob nie etwas anderes mit ihm geschehen wäre, wieder zum Selbstzweck künstlerischer Potenz? Übernimmt eine neue Klassizität die Rolle einer, wie auch immer gearteten Provokation? Der erste Eindruck löst zweifellos Unsicherheit aus. Sei es, dass man nach einer Rechtfertigung für das scheinbar „harmlose“ Auftauchen des nackten Körpers sucht oder die Konsequenzen in der Entwicklungslinie des „Technikers“ Tschinkel vermisst. Oder man traut ganz einfach dieser neuen alten Ästhetik nicht.
 
In der Schlichtheit der allgemeinen formalen, insbesonders der malerischen Mittel liegt ein unerhörtes Maß an Konzentration. Wir werden mit den notwendigsten Informationen versorgt, um Körper und Raum aus einer nahezu grafischen Struktur loslösen und als Determinanten einander gegenüber stellen zu können. Gerade aus dieser künstlerischen Beschränkung erwächst ein intensives Wechselspiel zwischen den einander bedingenden Elementen. Wie aus hellen und dunklen Flecken das Körpervolumen erwächst, bilden große verschieden tonige Flächen den Raum. Jenen Raum, den der Körper benötigt, um zu stehen, zu  kauern oder zu liegen. Den der Körper durch seine Haltung, durch die Stellung seiner Gliedmaßen artikuliert. Er misst Höhe, Breite und Tiefe mittels seitlich ausgestreckter, erhobener Hände und des Schrittmotivs aus. Illusionistische Verkürzung und der rechte Winkel der Arme reißen die Raumachsen an sich, die kauernde Gestalt markiert jenen Punkt, an dem die drei Dimensionen unmittelbar aufeinander treffen. Nirgendwo ist der Raum für den Körper zu groß dimensioniert, sodass er ihn bedrohen oder ihm seine Geringfügigkeit vorführen könnte. Auf keinem der Bilder aber ist der Raum auch zu klein, begrenzt, einengend, das körperliche Volumen in seiner natürlichen, bequemen Entfaltung hemmend. Ein quadratisches Rastersystem, das dem Bild auferlegt, aber gleichzeitig tatsächliches Bauelement ist – einzelne Leinwandquadrate werden zum Gesamtbild zusammengefügt – setzt das Körper-Raum-Verhältnis planquadratisch auf die Fläche um. Zwar bedient sich Tschinkel keiner mathematischen oder anatomisch recherchierenden Quellen für die Rasterung, doch lässt er einzelne Körperabschnitte deutlich in Bezug zu den gleichmäßigen Bildabschnitten treten und schafft so einen starken wirksam werdenden Maß-Bezug. Dieser tritt damit in die Ambivalenz einer selbst geschaffenen bzw. vorhandenen Ordnung und fügt sich aktivierend in das Bildganze.
 
Von entscheidender Bedeutung für die neuartigen Realisationen dieser Figurenbilder wird die enge Verknüpfung zwischen Form und Grund. Vom Körper ausgehend erfahren Fläche und Raum ihre Dimensionen. Haltung und Bewegung schaffen den für die Existenz der dargestellten Figuren notwendigen Umraum. Aller Zwänge und Ängste entkleidet vermag sich der Mensch zu rühren und seine archetypischen Haltungen zu verwirklichen. In einer wie in seiner „technischen Phase“ ruhigen, „kommentarlos“ zu nennenden Art, ohne Hektik, mit großer Konzentration, nüchtern und sachlich, setzt Tschinkel dort an, wo er eben erst aufgehört hat: wach zu registrieren. Empfänglich für die Erscheinungen seiner Zeit, ohne sie laut und überstürzt hinauszuschreien. Erst wenn er sie formal bewältigt hat, versucht er sie loszuwerden. So hat er auch eines der „heißesten Eisen“ der bildenden Kunst unserer Gegenwart, den Menschen, in seine Bilder hineingeholt.
 
Dr. Werner Fenz, 1979 | Salzburg, Deutschlandsberg, Leibnitz, „Körper“
 
 

 
 
 
Der männliche nackte Körper ist Symbolbild der menschlichen Kreatur; er ist zentrales Thema der Bildfolgen von Gemälden und Objekten Erich Tschinkels aus den Jahren 1978 und 1979. In präziser Gegenständlichkeit konfrontiert er damit den Betrachter, fordert zur Stellungnahme, zur Auseinandersetzung, hält ihn an, diese Formulierung weiterzudenken, zu ergänzen und zu vollenden und im Resümee ein eigenes Gedanken-Bildwerk erstehen zu lassen.
 
Die lebensgroßen Körper sind aus der Realität entnommen, in der farblichen Grau-Schwarz-Gestaltung wird diese Naturhaftigkeit aber neutralisiert. Der Betrachter erlebt in dieser ungewohnten Begegnung seine eigene fundamentale Wirklichkeit, er findet sich einem Wesen ohne Aggression, ohne Hass und Täuschung, ohne kritische Abwehrstellung gegenüber. Das Wesen erscheint als Idealbild, das die individuelle Existenz von der Basis her anspricht. Erich Tschinkels Konzept ist in allen Phasen genau als Abbild seiner intellektuellen Überlegungen ausgewertet. Die systematische Rasterbildung im Gesamtgemälde, die bausteinartige Aneinanderfügung von Elementen, von Zellen, weisen auf die harmonische und sich gegenseitig ergänzende Struktur des Weltbildes hin. Darin wird der Mensch in eine Gliederung der Gleichförmigkeit, der Norm gezwängt: Raster, Ordnung, System sind äußere allgegenwärtige Zwänge.
 
Ein wesentlicher Akzent seiner Werke ist aber die Dreidimensionalität in der gemalten Bildebene. Der Kauernde, der Stehende, der Sich-Anlehnende, der Liegende, der Sich-Streckende, der Sich-Beugende ist eingestellt in eine neu gewonneneRäumlichkeit. Das Wesen agiert in einem Umraum, findet sich in einer Lebenshülle zurecht, begreift sich selbst.
 
In den Bewegungsstudien, in der Schattenbildung, in der fibrierenden Statik werden  die Räumlichkeit und die Plastizität unmittelbar bewusst. Es sind Bilder, die kraftvoll das Volumen des menschlichen Körpers akzentuieren, die aber zu Ende gedacht werden müssen. Es sind keine monotonen Abbilder, sie leben vielmehr in ihrer sparsamen Farbgebung, die in ihrer Kühle und Distanz zu vitalem Kolorismus einem allgemein gültigen Symbolbild entsprechen. Der Betrachter – außerhalb des Rasters stehend – wird zugleich zum Voyeur und wird sich seiner eigenen Existenz bewusst. Für den Bildprozess Erich Tschinkels ist nun in dieser Serie die Betonung des Menschenbildes evident und als logische Entwicklung seiner Folge von technischen Geräten aus den Jahren 1972 – 1976 verständlich. Aus der Welt dieser technischen, medizinischen Geräte, die in der Detailsicht überdimenioniert wirken und den Blickwinkel auf die Bedrohung und mögliche Manipulation richten, war der Mensch verbannt, doch als unsichtbarer Bezugspunkt stand er im Gedankenraum. Die Reflexion auf den hinter der Barriere der Wirklichkeit ruhenden Bereich war Tschinkel immer ein Anliegen. Jetzt findet er zur gegenständlichen Position des Menschen zurück, artikuliert ihn als Leitbild und als Mittelpunkt unseres Lebensraumes.
 
Univ. Prof. Gert Ammann, 1981 | Landeck, „Körper“
 
 

 
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